Deutsch Intern
    Recht populär

    Künzel

    PD Dr. Christine Künzel

    Christine Künzel, PD Dr. phil. (geb. 1963), Privatdozentin am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. Studium der Germanistik, Amerikanistik und der Philosophie an der Universität Hamburg und der Johns Hopkins University Baltimore (USA). 2002 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Dissertation zum Thema Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, die im Dezember 2005 mit dem Fritz-Sack-Preis der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie ausgezeichnet wurde. 2011 Habilitation an der Universität Hamburg. Neben der Dissertation zahlreiche weitere Publikationen im Bereich Kriminologie und Literatur.

    Link zur Homepage am Institut für Germanistik der Universität Hamburg.

    Anwaltschaft und Autorschaft oder Wenn der Anwalt sich als auktorialer Erzähler inszeniert. Anmerkungen zu den etwas zu perfekten Erzählungen Ferdinand von Schirachs [Abstract]


    Beim ersten Lesen der Erzählungen Ferdinand von Schirachs (gemeint sind hier die beiden Erzählbände „Verbrechen“ und „Schuld“) habe ich mich bereits gefragt, was diese Erzählungen so erfolgreich, sprich: populär, macht. Zugleich hatte ich das Gefühl, dass mich irgendetwas an den Geschichten stört, konnte aber noch nicht genau formulieren, was es konkret war, das mich störte.

    Inzwischen kann ich meine Kritik genauer formulieren. Diese bezieht sich zum einen auf das wiederkehrende Erzählmuster, dem (fast) alle Geschichten folgen: Es wird ein Tathergang, ein „Verbrechen“ geschildert, dann gibt es Probleme hinsichtlich der Schuldfrage, ein Anwalt wird eingeschaltet, die Probleme werden (meist zum Vorteil des Beklagten/der Beklagten) gelöst, es werden hier und da Gemeinplätze über das deutsche Justizsystem eingeflochten, der „Fall“ wird – quasi aus einer auktorialen Erzählperspektive heraus – vom Erzähler bis ins Detail (psychologisch) ausgedeutet, so dass so gut wie keine Fragen offen bleiben. Mit anderen Worten: Die Erzählungen sind zu perfekt konstruiert, der Autor geht kein Risiko ein. Die Frage ist, ob eine solche Erzählweise noch (relativ neutral) als „populär“ oder nicht vielmehr als „trivial“ zu bezeichnen ist.

    In den Erzählungen werden verschiedene Erzählperspektiven und -instanzen überblendet bzw. vermischt: Die Erzählungen beginnen zumeist mit einer Erzählung in der 3. Person, sobald der Anwalt eingeschaltet wird, kippt das Ganze (kurzzeitig) in eine Erzählung in der 1. Person; zudem zeichnen sich die Texte durch auktoriale Passagen aus, in denen der Erzähler/Anwalt sich quasi als allwissende Instanz inszeniert; dies sind die Passagen, in denen die Tatmotive psychologisch entfaltet werden und in denen Gemeinplätze zum deutschen Rechtssystem verkündet werden.

    Die Kritik, die ich in meinem Vortrag formulieren möchte, bezieht sich zum einen auf die Inszenierung des Anwaltes als auktoriale Erzählinstanz, die alle Wissenslücken schließt bzw. schließen kann, die normalerweise in Strafrechtsprozessen nicht geschlossen werden können. So lassen die Erzählungen kaum Raum für Ausdeutungen des Lesers/der Leserin – es handelt sich vielmehr um „geschlossene“ , sprich: ausgedeutete, Geschichten, die den Eindruck vermitteln, Tathergänge und Motive ließen sich im Nachhinein lückenlos aufklären – und das aus nur einer Perspektive betrachtet: der des Anwaltes. Auf diese Weise wird nicht nur ein unzureichender Eindruck über die Möglichkeiten der gerichtlichen Aufklärung von Straftaten transportiert, sondern es werden auch zahlreiche andere Perspektiven ausgeklammert (so u.a. die des Richters/der Richterin und die der Verbrechensopfer).